Wie sich der Literaturwissenschaftler Wilhelm Gössmann dem „Willehalm“ mittels eines kleinen, aber feinen Essays annäherte
Drei literaturwissenschaftlich Interessierte führen auf einer gemeinsamen Reise und in Gesprächen durch den Essay Gössmanns: Willem, ein Wissenschaftler und Schriftsteller, seine ehemalige Studentin Madeleine und die ältere Studentin Radegunde. Es ist wohl der Vorname des männlichen Protagonisten, der genauso wie der des Autors auf „Wilhelm“ lautet und den Anstoß zu der Erzählung gibt: Namenspatron und Vorbild des „Willehalm“ ist der 1066 heilig gesprochene Wilhelm von Aquitanien, ein Enkel Karl Matells und Freund und Verwandter Karls des Großen. Im Kampf gegen die „heidnischen“ Araber eroberte er einst Aquitanien zurück, befreite im Süden Frankreichs Orange, Nîmes, Narbonne, und zog bis nach Barcelona.
Das befreundete Trio Willem, Madeleine und Radegunde macht sich in Gössmanns Erzählung aus Burgund kommend spontan auf die Spuren des historischen Pendants von Wolframs Willehalm: sie fahren mit dem Auto zunächst in den Süden Frankreichs, in das große alte Aquitanien, eine ehemalige römische Provinz. Ihr Ziel ist das Kloster Saint-Guilhem-le-Desért in Gellone, das Wilhelm von Aquitanien 804 gründete, und in das er später selbst eintrat und auch starb – der Heiliggesprochene, der später Schutzheiliger der Waffenschmiede und Ritter werden sollte. Das kulturinteressierte Trio kommt zunächst an Orange vorbei, dem provenzalischen Ort, in dem der literarische Markgraf Willehalm (Guillaume d‘ Orange) seine Burg stehen hatte – genau die Burg, die seine geliebte Giburg später alleine gegen die Sarazenen verteidigen muss. Tatsächlich diente ein dortiges antikes Theater ehemals auch als Festung und Schutzwall, gerade im frühen Mittelalter – die Protagonisten fragen sich daher zurecht: Ist dies der historische Schauplatz von Willehalms Burg Orange?
„Im Frühmittelalter die Auseinandersetzung mit den Sarazenen, unversöhnlich hart, in der Provence, in Aquitanien, weit abgelegen. Europa und der Islam, eine kulturelle, eine kriegerische Berührungszone.“ - „Heute wieder ein aktuelles Thema, wenn auch anders als im Mittelalter.“ - „Ich weiß zu wenig über den Islam, nur Zeitungswissen.“ - „Es gab eine wunderbare Epoche in Südspanien, wenn man an Granada denkt.“ - „Heute idealisiert“, wirft Willem ein. „Ein utopischer Aspekt, Christentum, Judentum, Islam, ein Monotheismus der Zusammengehörigkeit.“ -
„Aber nicht ohne kulturelle Aufklärung, sprich Philosophie.“ So tauschen sich die drei ihre Ansichten aus.“Aus: Der Heilige und die Sarazenin, S. 12/13
Unweit des Schlachtfelds Alischanz, auf dem sich im „Willehalm“ die zwei dramatischen Schlachten zwischen Christen und Sarazanen abspielen, finden die drei ein Ferienhaus, in dem sie weiter forschen, Passagen aus dem „Willehalm“ übersetzen und die Quellen studieren, zum Beispiel auch die altfranzösische Vorlage des Epos „La Chanson de Guillaume“.
Über die Unterhaltungen der drei erfährt der Leser ein bisschen über die „harte und unbekümmerte Sprache“ (S. 38) der altfranzösischen Vorlage, aber auch die wichtigsten Handlungsstränge aus dem „Willehalm“, wobei etwa Radegunde moniert, dass die Kirche es bisher versäumt habe, auch Giburg heilig zu sprechen – tatsächlich, so sagen die Quellen, soll der heilig gesprochene Wilhelm von Aquitanien zwei Ehefrauen gehabt haben, von denen die eine den Namen Guiburc/Guitburge trug.
Aus den Gesprächen der drei erfährt der Leser nun die wichtigsten Haupterzählstränge des „Willehalm“, und Gössmann garniert seine Aufführungen häufig mit ein paar exemplarischen Versbeispielen aus dem Epos, unter anderem mit Auszügen aus dem berühmt gewordenen Religionsgespräch zwischen Giburg und ihrem Vater, dem Sarazenenführer Terramer, sowie der sogenannten „Toleranzrede“ Giburgs, in der sie die christlichen Heerführer zur Schonung ihrer Landsleute aufruft.
Wilhelm Gössmann kommt auch auf die Tagelieder Wolfram von Eschenbachs zu sprechen, die in manchen Sammelwerken ebenfalls mitübersetzt sind:
„Ein neues, faszinierendes Lektüreerlebnis, das alle drei dazu brachte, noch einmal über Gyburgs und Willehalms Liebesbeziehung nachzudenken. (…) Radegunde, die vorher die Form des Tagesliedes noch nicht kannte, überlegt: „Die Situation des Tagesliedes paßt vielleicht auf die Situation von Arabelle (Gyburc) und Willehalm während seiner arabischen Gefangenschaft: heimliche Liebe, sicher auch erotische Liebe, die nicht entdeckt werden durfte.“
Aus: Der Heilige und die Sarazenin, S. 54
Richtig erzählt Gössmann, dass mit dem Willehalm-Epos dennoch nicht die Geschichte Wilhelms endet. Der historische Wilhelm von Aquitanien soll nach dem Tod seiner Frau Giburg das Kloster in Gellone gegründet haben und dort später als einfacher benediktinischer Mönch gelebt haben: Macht und Ehre wollte er endgültig hinter sich lassen.
Die drei forschenden Freunde verlassen nun ihr Haus in der Provence, und machen sich auf, das Kloster zu besuchen. Heute findet sich in dem Felsental zwar kein Kloster, dafür aber eine schöne romanische Kirche mit Wilhelmskreuz und Willehalm-Reliquien in einem kleinen Schrein. Außerdem finden sie die Ruinenreste vom Kreuzgang des Klosters, alles in allem ein touristisch attraktives Dorf:
„Schöne mittelalterliche Baukunst, edel über den mittelalterlichen Gebäuden des Dorfes.“
Aus: Der Heilige und die Sarazenin, S. 60)
Mit der Gründung des damaligen Klosters in Gellone sind viele, auch neue Mythen entstanden, zum Beispiel die, dass Willehalm gegen einen Riesen gekämpft habe, der mit der Gründung des Klosters vor seiner Nase so gar nicht einverstanden war. Oder es wird erzählt, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, weil dieser seine Brücke über den dortigen Fluß Hérault vor der Fertigstellung drei mal zerstörte.
Zum Thema „Islam und Christentum“ erwähnt der Autor Wilhelm Gössmann am Schluss seines Essays „Der Heilige und die Sarazenin“ unter anderem die jugendliche Tragödie „Almansor“ Heinrich Heines, die eine literarische Entsprechung des Willehalm sei: auch sie spielt sich vor dem Hintergrund eines Religionskampfes ab, hier zwischen den Spaniern und Mauren, und auch bei ihr steht eine wenn auch tragisch endende Liebesgeschichte im Zentrum der Erzählung:
„Bei Heine tritt die versöhnende Kraft hervor, die in der erotischen personalbezogenen Liebe liegt. Sie überwindet Schranken. Sie behält recht, wenn auch nur in der tragischen Sprache der Poesie.“ (…) „Zum Schluss dieser Erörterung die letzten beiden Sätze aus der Devise, die Heine seiner Tragödie vorangestellt hat: „Es kämpfen Christ und Moslem, Nord und Süden, Die Liebe kommt am End und macht den Frieden.“
Aus: Der Heilige und die Sarazenin, S. 74 und 76
Wilhelm Gössmann ist mit seinem Erzählband eine vielschichtige, manchmal zwar sprachlich etwas karge, aber doch insgesamt recht leicht zu lesende Einführung in die Thematik des Wolframschen Epos gelungen – wer wie ich ein begeisterter Anhänger dieses alten, facettenreichen Epos ist, bekommt Lust, selbst die Koffer zu packen, und sich nach Frankreich aufzumachen, um sich wie die Protagonisten in dem Essay auf die Spuren der beiden "Wilhelme" zu machen. Das Büchlein ist als Einstieg in die Thematik zu empfehlen, aber auch als Ergänzung für all diejenigen, die sich mit dem „Willehalm“ wissenschaftlich beschäftigen, oder ihn einfach interessehalber bereits gelesen haben oder noch lesen wollen – ob im Original oder in seiner werktreu nacherzählten Form, in “Willehalm und Arabel“.
Dieser Text wurde auch als Rezension von mir auf Amazon veröffentlicht.
Bildquelle: Buchcover "Der Heilige und die Sarazenin"