Absicht oder nicht: Ist die Willehalm-Dichtung ein abgeschlossenes Werk?

Die Frage, ob der „Willehalm“ Wolfram von Eschenbachs ein abgeschlossenes Werk ist, dessen Schluss der Dichter bewusst offen gelassen hat, hat die Forschung viele Jahre hindurch beschäftigt. Konsens ist zwar, dass das Werk als Fragment zu betrachten ist, aber war dies eben Wolframs Absicht oder nicht?

Das berühmte Epos stellt dem Leser kein Happy End bereit und lässt ihn mit offenen Fragen zurück: Wie wird sich der Sarazenenführer Terramer nach der zweiten, verlorenen Schlacht verhalten? Willehalm schickt ihm über dessen Verbündeten, den skandinavischen König Matribleiß, die gefallenen sarazenischen Könige zurück. Wird er danach Frieden halten oder erneut zu einer Schlacht rüsten lassen? Was passiert mit einer der großen Hauptfiguren der Erzählung, mit dem ehemaligen Küchenjungen und späteren Fußknappen Rennewart, der als kleiner Junge aus Arabien an den französischen Hof verschleppt wurde und später zum Retter der Christen in der zweiten Schlacht wird? Willehalm ist untröstlich, denn sein Knappe Rennewart bleibt nach der letzten Schlacht verschwunden. Ist der Junge tot? Wird er Willehalms Frau Giburg als seine Schwester erkennen? Wird er Prinzessin Alice heiraten, in die er sich so verliebt hatte?

Für eine mittelalterliche Dichtung ist solch ein offener Schluss ungewöhnlich. Musste Wolfram seine Dichtung abbrechen, weil er krank wurde oder starb, oder weil sein Gönner und Auftraggeber, der Thüringer Landgraf Hermann verstarb? Tatsache ist, dass Wolfram sein Werk offenbar nicht freiwillig abbrach – so hat es auch der mittelalterliche Schreiber Ulrich von Türheim verstanden, der das Werk mit der Erzählung „Rennewart“ um 1240 zu ergänzen müssen glaubte, ebenso, wie Ulrich von dem Türlin das Werk mit seiner Vorgeschichte „Arabel“ einige Zeit später ebenfalls abzurunden versuchte: zwei nachträglich angefertigte Erzählungen, die den „Willehalm“, so die heutige Kritik, im Sinne der alten christlichen Kreuzzugsideologie wieder zu entschärfen versuchten und ihn seines neuen, humanistischen Potentials beraubten.

Wir werden wohl nie wissen, warum der „Willehalm“ ein Fragment geblieben ist. Und, was ebenso erstaunlich ist, wir werden nach Bertau (1983) wohl nie erfahren, wie Willehalm als Ritter ein Heiliger werden konnte – dies bleibt in „bestürzender Weise offen“. Der Willehalm ist auch eine Heiligenlegende, und Willehalm tritt in der Nachfolge Karls des Großen im „Willehalm“ als Anführer und Retter der Christenheit auf – aber er ist am Schluss ein gebrochener Ritter und das ist genau die Stärke, die das Werk einzigartig macht und die es heute auszeichnet.

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